Für Entdecker: Das Geheimnis der kritischen Masse

Für Kettenreaktionen in der Kernphysik bedarf es spaltbares Material, damit die Kettenreaktion aufrechterhalten werden kann. Diese benötigte Menge an Spaltmaterial wird dabei als kritische Masse bezeichnet. Dabei darf genau ein Neutron eine weitere Spaltung des Materials auslösen, damit die Kettenreaktion kontrolliert bleibt. Lösen mehrere Neutronen gleichzeitig Kettenreaktionen aus, handelt es sich um unkontrollierte Kettenreaktionen und damit gegebenenfalls um die Anbahnung einer nuklearen Katastrophe, denn unkontrollierte Kettenreaktionen sind kaum aufhaltbar. Die nötige kritische Masse, die dann zu einer einzelnen weiteren Kernspaltung führt, hat demnach eine konstante Reaktionsrate. Der Multiplikationsfaktor beläuft sich dann auf 1. Sobald die vorhandene Masse innerhalb eines Prozesses die kritische Masse übersteigt, dann steigt auch die Anzahl der Kernspaltungen, woraufhin die Bezeichnung “überkritische Masse” Verwendung findet. Eine geringere Menge an Material, als es die kritische Masse erfordern würde, wird daher als “unterkritische Masse” bezeichnet.

Das Objekt der kritischen Masse, also das spaltbare Material, muss dabei mehrere verschiedene Eigenschaften aufweisen. Beeinflusst wird es von seiner Dichte und seiner Form. Generell gilt, dass eine erhöhte Dichte des Objekts dazu führt, dass die kritische Masse geringer ist. Kugelförmige Objekte benötigen ebenfalls eine geringere kritische Masse. Außerdem hängt die Menge der benötigten kritischen Masse von der Art des verwendeten Materials ab. Des Weiteren benötigt eine kritische Masse, um einen Spaltungsprozess auslösen zu können, diesen aber als kontrollierte Kettenreaktion ablaufen zu lassen, neutronenabsorbierendes Material. Im Kernreaktor handelt es sich dabei um Bor oder Cadmium. Es ist auch möglich eine unterkritische Masse mithilfe eines Neutronenreflektors zu einer kritischen, spaltbaren Masse werden zu lassen. Bei dem Neutronenreflektor handelt es sich dabei um Materialien wie Blei, Graphit, Beryllium, Wolframcarbid oder Stahl. Bei Kontakt mit dem Neutronenreflektor werden die Neutronen einer Streuung unterzogen, was bedeutet, dass sie eine Ablenkung erfahren. Die Anwesenheit eines Neutronenreflektors reduziert die kritische Masse in manchen Fällen äußerst deutlich. Das zeigt sich an den Beispielen des Isotopen Uran-235, das unreflektiert eine kritische Masse von 49 Kilogramm, reflektiert aber nur eine Masse von 22,8 Kilogramm benötigt. Das Isotop Plutonium-239 hingegen benötigt unreflektiert eine kritische Masse von 10 Kilogramm, reflektiert aber nur eine kritische Masse von 5,42 Kilogramm.

Interessant ist auch das Beispiel der Atombombe, wenn man über kritische Masse spricht. Da man bei einer Atombombe konventionellen Sprengstoff benötigt, um eine unkontrollierte Kettenreaktion des Plutoniums auszulösen, die schnell genug und stark genug ist, schafft man jedoch gleichzeitig auf diese Art eine komprimierte überkritische Masse. Diese lässt mit verschiedenen Methoden auf eine kritische Masse reduzieren. Beispielsweise kann man einen Neutronenmoderator verwenden. Bei diesem kann es sich um leichtes Material wie Graphit oder Beryllium handeln. Zwar werden diese Materialien, wie bereits bemerkt, auch als Neutronenreflektoren eingesetzt, die eine Streuung der Neutronen auslösen, gleichzeitig dienen sie aber auch moderierend, da sie die Bewegungsenergie der Neutronen vermindern. Mit einer Hülle aus diesem Material lässt sich, auch durch die Masseträgheit dieser Hülle, die Explosion der Atombombe verzögern und gleichzeitig verlängern. Im Englischen nennt man diese Hülle “Tamper”. Die Anwesenheit eines Neutronenreflektors kann gleichzeitig die benötigte kritische Masse verringern. Wie bereits am Beispiel des Plutonium-239 gezeigt, handelt es sich dabei um eine sehr deutliche Verringerung. Mithilfe einer Verdichtung, also einer Kompression, lässt sich die kritische Masse der Bombe noch weiter verringern. Kugelförmige Objekte haben ja eine deutlich geringere kritische Masse. Insgesamt dienten im Zweiten Weltkrieg diese Überlegungen dazu, die Gesamtmasse der Atombombe zu verringern, da es ja auch eine Transportfrage und eine Brennstofffrage war.

Die Unterschätzung der kritischen Masse hat in der Vergangenheit bereits zu Unfällen geführt. Ein Beispiel ist der Nuklearunfall von 1999, der in Tokaimura, Japan stattfand. Dabei sollte Uranoxid gereinigt werden. Im ersten Schritt wird dabei das Uranoxid mit Salpetersäure gemischt. Dies geschah in einem kritikalitätssicheren Gefäß. In einem zweiten Zwischengefäß, das ebenfalls kritikalitätssicher war, wird dann Uranmasse und Urankonzentration bestimmt. Dies ist ein Schritt zur Kontrolle, um sicherzustellen, dass es keine Überschreitung der kritischen Masse gab. Der dritte Schritt war dann die Überführung der so entstandenen Uranylnitratlösung in einen Präzipitationsbehälter. Ein Präzipitationsbehälter dient dem Ausscheiden eines gelösten Stoffes aus einer Lösung, in diesem Fall also dem Uranoxid. Der Präzipitationsbehälter ist allerdings kein kritikalitätssicheres Gefäß, was bedeutet, dass es im Zweifelsfall keine weitere Schutzfunktion gibt. Die japanischen Arbeiter füllten statt der kritischen Masse, die 2,4 Kilogramm betrug, 16,6 Kilogramm in den Behälter ein, wohl um Zeit zu sparen. Dabei kam es zu einer unkontrollierten Kettenreaktion, da die kritische Masse deutlich überschritten wurde. Eine große Menge an Neutronen- und Gammastrahlung wurde erzeugt. Zwei der drei beteiligten Arbeiter starben an der Strahlenkrankheit und der Unfall hatte eine weitreichende Evakuierung zur Folge.

Weitere Zwischenfälle, die im Zusammenhang mit der kritischen Masse stehen, entstanden durch die Verwendung eines 6,2 Kilogramm schweren Plutoniumkerns in USA, der als “Demon core” bekannt wurde. Der Neutronenreflektor war ursprünglich eingesetzt worden, um die kritische Masse zu reduzieren. 1945 stapelte der Physiker Harry K. Daghlian Jr. Barren aus Wolframcarbid um diesen Plutoniumkern. Das Wolframcarbid diente dabei als Neutronenreflektor. Als er einen weiteren Barren auf den Plutoniumkern legen wollte, zeigten ihm seine Messgeräte, dass die Neutronenkonzentration erheblich anstieg. Er wich zurück, aber der letzte Barren löste eine unkontrollierte Kettenreaktion aus und er erlitt eine tödliche Strahlendosis. Ein ähnlicher tödlicher Unfall geschah dem Team um den Kanadier Louis Slotin. 1946 wurden zwei Beryllium Halbkugeln um den Plutoniumkern angeordnet. Auch sie dienten als Neutronenreflektoren. Sie durften sich nicht berühren, um so die kritische Masse nicht zu schnell zu reduzieren. Jedoch rutschte ein Schraubstock aus seiner Halterung und die Beryllium Halbkugeln schlossen sich. Slotin starb neun Tage später an der akuten Strahlenkrankheit und auch die anderen beteiligten Wissenschaftler erlitten teils Bleibeschäden. Diese Beispiele illustrieren deutlich, welchen Ausschlag die kritische Masse im Bereich der Kernphysik haben kann.


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